Die Türkei nach dem Referendum: Europäische Union muss Konsequenzen ziehen

Menschenrechtsverletzungen, autoritärem Umbau der Verfas-sung und militärischen Angriffshandlungen präsentiert die türkische Führung eine neue Türkei, die sich mit großer Geschwindigkeit von der Europäischen Union entfernt. Ein Annäherungsprozess an die EU ist nicht erkennbar und scheint auch für die nahe Zukunft unrealistisch.
Die mit dem Referendum beschlossenen Verfassungsänderungen bauen die Türkei zu einem politischen System um, das die Macht weitestgehend in den Händen des Staatspräsidenten zentralisiert. Trotz Ähnlichkeiten mit dem US-amerikanischen System geht die Macht des zukünftigen türkischen Präsiden-ten weit über die des US-amerikanischen hinaus. Der Staatspräsident ist künftig auch Regierungschef, die von ihm ernannten Minister werden nicht vom Parlament bestätigt. Der Präsident kann nicht nur Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen (solange das Parlament keine entsprechenden Gesetze beschließt), auch der Haushalt ist nicht von der Zustimmung des Parlaments abhängig (da ohne Parlamentsbeschluss der Vorjahreshaushalt fortgeschrieben wird, einschließlich Steigerungsrate). Der Präsident kann das Parlament auflösen. Dadurch kann er die Begrenzung auf zwei Amtszeiten unterlaufen, denn im Fall einer unvollständigen Legislaturperiode kann er erneut kandidieren. Im Gegensatz zu den USA gibt es keine „checks and balances“: Das politische System der Türkei ist zentralistisch; die Leiter der Provinzen und Landkreise werden direkt vom Innenminister ernannt. Es existiert keine zweite Kammer als Ländervertretung, die Parlamentswahlen sind immer gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen, eine Kandidatur unabhängiger Kandidatinnen und Kandidaten bei Letzteren ist unzulässig. Der Präsident kann in Zukunft auch Vorsitzender der Regierungspartei sein. Es wird daher zukünftig neben dem Staatspräsidenten keine zweite Person oder Institution geben, die seine Macht ernsthaft einschränken könnte.

Trotz Massenverhaftungen, Medienkontrolle und massivem Druck ist das Verfassungsreferendum nur mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen wor-den. In den größten Städten (Ankara, Istanbul und Izmir) hat das „Nein“-Lager die Mehrheit. Die Türkei ist aktuell tief gespalten zwischen den Befürwortern und Gegnern des zukünftigen Ein-Personen-Regimes. Die Entwicklung der letzten Wochen und Monaten zeigt, dass das Erdoğan-Lager nicht davor zurückschreckt, Mehrheitsverhältnisse mit Macht und Gewalt in seinem Sinne zu korrigieren. „Wer nicht mit Ja stimmt, der steht mit Terroristen und Putschisten auf derselben Seite“, hieß es auf den Kundgebungen des „Ja“-Lagers. In der Praxis wird bereits nach dem Muster gehandelt: Wer nicht für Erdoğan ist, ist ein Staatsfeind. Zu den Gegnern zählt Erdoğan auch die Bundesrepublik, weil diese sich weigert, auf eigenem Boden den türkischen Geheimdienst in seiner Jagd auf Oppositionelle zu unterstützen. Die fortgesetzte, illegale Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel ist ein bewusst gesetztes Symbol.

Die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen zur EU ist durch die innenpolitische Entwicklung der Türkei aktuell nicht mehr vertretbar. Es ist nicht beides möglich: Ein autoritäres System und eine Beitrittsperspektive zur EU, einen Al-leinherrscher Erdoğan und florierende Wirtschaftsbeziehungen, Unterdrückung der Opposition und Anerkennung im Ausland. Dies deutlich zu machen, ist ein Gebot der Solidarität mit derjenigen Hälfte der türkischen Bevölkerung, die sich dem antidemokratischen Umbau der türkischen Gesellschaft widersetzt.

Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:

1. Die Bürgerschaft (Landtag) wendet sich gegen die fortdauernde Ein-schränkung von Grund- und Menschenrechten, die weitere Zentralisie-rung institutioneller Macht und die Kriminalisierung der Opposition in der Türkei.
2. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert die sofortige Freilassung aller kriti-schen Journalistinnen und Journalisten wie Deniz Yücel und aller demo-kratisch gewählten Mandatsträgerinnen und Mandatsträger wie Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, die sofortige Ausreise inhaftierter deutscher Staatsbürger wie Sharo Garip, sowie die Rehabilitierung aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die den Aufruf der „Akademikerinnen und Akademiker für den Frieden“ unterzeichnet haben.
3. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf, sich dafür einzusetzen, dass die Agententätigkeit türkischer Geheimdienste in Deutschland beendet wird.
4. Die Bürgerschaft (Landtag) spricht sich dafür aus, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf unbestimmte Zeit auszusetzen.

Cindi Tuncel, Kristina Vogt und Fraktion DIE LINKE
Dr. Magnus Buhlert, Lencke Steiner und Fraktion der FDP